Das Thema Dekarbonisierung hat in den vergangenen Jahren bereits stark an Bedeutung gewonnen. Triebfeder war gerade bei den großen Unternehmen der Druck, den der Klimawandel auf die Gesellschaften ausübt. Nicht immer war die Motivation auf der Suche nach „grünen“ Lösungen intrinsischer Natur, mit einer wachsenden Kundenerwartung an nachhaltige Produkte und Dienstleistungen haben sich aber viele Konzerne auf den Weg gemacht, bei der Energiebeschaffung, aber auch bei der eigenen Produktion nach Alternativen Ausschau zu halten. Erkennbare Konsequenz daraus ist etwa ein deutlicher Anstieg der Nachfrage nach Corporate-Green-PPA, also langfristigen Stromabnahmeverträgen, die es den Unternehmen ermöglicht, den eigenen CO2-Fußabdruck nachweislich zu reduzieren.
Der Einsatz erneuerbarer Energien und grüner Lösungen ist von Industrie und Handel Schritt für Schritt als Wettbewerbsfaktor erkannt worden. Fossile Brennstoffe erhalten zudem zunehmend einen Preis, der ihre negativen externen Effekte auf Umwelt und Klima berücksichtigt, die Zeit billiger fossiler Rohstoffe ist vorbei. Der Angriffskrieg Russlands hat die Energiekrise dramatisch verschärft – das Thema Dekarbonisierung und Abkehr von Gas und Kohle wird für Energieverbraucher zunehmend zur Existenzfrage.
Gas im Großhandel kostet mehr als 20 ct/kWh – Strom mehr als 30 ct/kWh
Die Gaspreise im Großhandel lagen Mitte August am Day-Ahead-Markt bei mehr als 200 €/MWh. Nach Angaben der Bundesnetzagentur hatte der entsprechende Preis vor dem russischen Angriff auf die Ukraine bei rund 80 €/MWh gelegen, aktuell ist mithin das Zweieinhalbfache des Vorkriegspreises zu bezahlen. Am Strommarkt sieht es nicht besser aus. Waren für Grundlaststrom am Spotmarkt im Juli 2021 im Mittel 81,37 €/MWh zu entrichten – bereits ein deutlicher Aufschlag gegenüber den Preisen der ersten Jahreshälfte 2021 – so kostete die entsprechende Grundlastlieferung Strom im Juli 2022 im Durchschnitt bereits 315 €/MWh, also fast viermal so viel wie im Vorjahr.
Der Bundesverband der Energie-Abnehmer (VEA) sprach bereits im Juli von einem „existenzgefährdenden Ausmaß“, das die Preisspirale angenommen hat. „Was momentan auf den hiesigen Energiemärkten stattfindet, erschlägt den Mittelstand förmlich“, sagt VEA-Hauptgeschäftsführer Volker Stuke. „Schafft es die Politik jetzt nicht, die Märkte zu stabilisieren, sehen wir den Wirtschaftsstandort Deutschland in Gefahr.“
Wirtschaftswachstum in Deutschland kommt zum Stillstand
Auf die Wirtschaftsentwicklung schlägt die Energiepreisentwicklung bereits durch. Zahlen des Statistischen Bundesamts zeigen eine Stagnation des Bruttoinlandsprodukts im zweiten Quartal. „Der Industrie machen die Folgen des Ukraine-Kriegs, ein langfristig andauernder Gasmangel und die Auswirkungen der Covid-Pandemie zu schaffen“, sagt Wolfgang Niedermark, Mitglied der BDI-Hauptgeschäftsführung. Stark gestiegene Preise für energetische und nicht-energetische Rohstoff heizen die Inflation an. „Die Risiken für die deutsche und europäische Konjunktur durch fehlende Energierohstoffe bleiben sehr hoch“, sagt Niedermark. „Die Reduzierung russischer Gasexporte besorgt uns.“
Die Bundesregierung hat angesichts der Entwicklung Ende Juni die Alarmstufe des Notfallplans ausgerufen. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hat den Ernst der Lage mehrfach betont. Die Regierung setzt auf alternative Bezugsmöglichkeiten für Erdgas, forciert das Thema „grüner Wasserstoff“ und müht sich, die Fesseln beim Ausbau der erneuerbaren Energien zu lösen. Kurzfristig sind die Substitutionsmöglichkeiten für Erdgas allerdings überschaubar. Kritiker werfen der Regierung vor, insbesondere beim Thema Energieeinsparung und Energieeffizienz viel zu zögerlich zu agieren. Die Deutsche Energie-Agentur (dena) forderte jüngst, dass insbesondere mit Blick auf Erdgas-Einsparungen aus einer „Debatte mit vielen Ideen“ nun endlich „konkretes Handeln“ werden müsse. Härter fällt das Urteil von Verbänden, die der Regierung „Tatenlosigkeit“ vorwerfen. Seit Beginn des Ukrainekriegs habe die Ampelkoalition keine nennenswerten Schritte unternommen, um die Gasnachfrage für Gebäudeheizung und Industriewärme deutlich zu reduzieren.
„Energieeffizienz muss übergeordnetes öffentliches Interesse zugewiesen werden“
„Das Thema Energieeffizienz war nie wichtiger als heute“, sagt der geschäftsführende Vorstand der Deutschen Unternehmensinitiative Energieeffizienz (Deneff). „Wir haben uns als Deneff der Energiesparkampagne der Bundesregierung angeschlossen, erleben jedoch sogar das Gegenteil von dessen, was politisch notwendig wäre.“ Statt das bereits im Februar angekündigte Energieeffizienzgesetz auf den Weg zu bringen, seien nun die Fördermittel für die Gebäudesanierung drastisch gekürzt worden. „Im Industriebereich stockt die Förderung bereits seit Monaten. Dabei ist es wichtig, Investitionen in Maßnahmen anzustoßen, die Haushalte und Unternehmen dauerhaft aus der Energiekostenfalle befreien – und zwar ohne Frieren und Produktionseinschränkungen.“ Energieeffizienz müsse ebenso wie der Ausbau der Erneuerbaren als übergeordnetes öffentliches Interesse vorangebracht werden.
Bundeskabinett beschließt Energieeinsparverordnungen
Das Bundeskabinett hat am 24. August zwei Verordnungen auf Grundlage des Energiesicherungsgesetzes (EnSiG) gebilligt. Diese beinhalten Maßnahmen zur Energieeinsparung in öffentlichen und privaten Gebäuden, Informationspflichten zu Energieverbrauch und -kosten sowie Umsetzungspflichten zu Empfehlungen aus den Energieaudits von Unternehmen. Es komme „ganz wesentlich“ darauf an, deutlich mehr Gas einzusparen, in der öffentlichen Verwaltung, in Unternehmen und in möglichst vielen Privathaushalten. „Wir stehen vor einer nationalen Kraftanstrengung, und es braucht ein starkes Zusammenspiel von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, von Bund, Ländern, Kommunen, Sozialpartnern, Gewerkschaften, Handwerk und Verbänden sowie der Zivilgesellschaft. Jeder Beitrag zählt“, sagt Habeck.
Die Energieeinsparverordnungen dienen zugleich auch als Beitrag zur Umsetzung der Einsparvorgaben der Europäischen Union. Angesichts der von Russland künstlich verursachten Gasknappheit haben sich die EU-Staaten verpflichtet, ihren Gasverbrauch ab August dieses Jahres um mindestens 15 Prozent zu verringern – im Vergleich zum Durchschnittsverbrauch der letzten fünf Jahre. Deutschland, das über die letzten Jahre besonders abhängig von russischem Gas war, muss seinen Gasverbrauch demnach um 20 Prozent senken.
Nach Angaben des Bundeswirtschaftsministeriums lässt sich der Gasverbrauch mit den nun beschlossenen Maßnahmen nach ersten Schätzungen um ungefähr zwei Prozent senken. Dies sei ein kleiner, aber unverzichtbarer Beitrag.
BDEW: Informationspflichten kaum umsetzbar und nicht zielführend
Der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) hält die Informationspflichten zu Energieverbrauch und -kosten für „kaum umsetzbar und nicht zielführend.” Zwar sei sich der BDEW mit der Bundesregierung einig, dass es wichtig sei, Verbraucherinnen und Verbraucher schnellstmöglich Anreize zu Energieeinsparungen zu setzen. Die Mitgliedsunternehmen hätten selber ein großes Interesse daran, dass Energie gespart wird. Doch die jetzt beschlossenen Regelungen zur Verbrauchs- und Preisinformation trügen nicht dazu bei, die Kundinnen und Kunden in ihrer individuellen Situation anzusprechen und seien für die Unternehmen kaum umsetzbar.
Der BDEW hatte vorgeschlagen, allen Kunden zeitnah mit Beginn der Heizperiode eine generische, also nicht kundenspezifische Information zu den erwartbaren Preis- und Kostenentwicklungen zukommen zu lassen. „Dieser Ansatz wäre deutlich praktikabler, ressourcensparender und zielführender gewesen“, so Kerstin Andreae, Vorsitzende der BDEW-Hauptgeschäftsführung.