Dena-Leitstudie: Wie glückt der Umstieg auf Netto-Null-Emissionen bis zum Jahr 2045?


Die Deutsche Energie-Agentur (dena) hat den Abschlussbericht der dena-Leitstudie „Aufbruch Klimaneutralität“ veröffentlicht. Hierzu haben in den vergangenen 17 Monaten zehn wissenschaftliche Institute ihre Expertise eingebracht und mehr als 70 Unternehmen ihre Branchenerfahrungen und Markteinschätzungen gegeben, ebenso ein 45-köpfiger Beirat mit Experten aus Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Sie haben gemeinsam untersucht, welche Technologiepfade aus heutiger Perspektive realistisch sind und welche Rahmenbedingungen es braucht, um diese bis 2045 in einem integrierten klimaneutralen Energiesystem in Deutschland zu realisieren. Dabei wurden konkrete Lösungssätze und CO2-Reduktionspfade für einzelne Sektoren (Bau, Verkehr, Industrie, Energieerzeugung sowie zu LULUCF) analysiert und identifiziert.


Vier Säulen: Energieeffizienz, Erneuerbare, Elektrifizierung und CO2-Senken


Um Klimaneutralität zu erreichen, ist aus technologischer Betrachtung eine Vier-Säulen-Strategie erforderlich, heißt es in der Analyse: Die Erhöhung der Energieeffizienz ist eine wesentliche Maßnahme in allen Verbrauchssektoren, insbesondere in der Industrie und im Gebäudesektor. Für den umfassenden direkten Einsatz von erneuerbaren Energien ist in vielen Anwendungsbereichen neben der Energieeffizienzverbesserung eine „breite und deutlich beschleunigte Elektrifizierung“ eine Grundvoraussetzung. Neben Strom werden erneuerbare gasförmige und flüssige Energieträger und Rohstoffe benötigt. Als vierte Säule braucht es technische und natürliche CO2-Senken.


„Wir werden nicht alle Emissionen vermeiden können, insbesondere in der Landwirtschaft und der Industrie. Daher muss die zukünftige Bundesregierung schnell eine Strategie für den Ausbau vorhandener und die Erschließung neuer natürlicher und technischer Senken entwickeln“, so Kuhlmann. „Diese vier Säulen haben unterschiedliche zeitliche Perspektiven. Ihnen allen ist gemein, dass sie erhebliche Anstrengungen in den Aufbau entsprechender Infrastrukturen bedürfen. Das gilt für Strom, Gas, Wasserstoff, Wärmenetze und CO2 in gleicher Weise wie für die Verkehrsinfrastruktur, die Digitalisierung und die administrative Infrastruktur, gegenwärtig eine der Hauptblockaden für das Aufnehmen neuer Dynamik“, erklärte Kuhlmann.


Energiesektor: Stärkste und schnellste Reduktion erforderlich


Die Energieversorgung ist aktuell der größte CO2-Emittent. Reduktionen müssen hier am stärksten und am schnellsten erfolgen, so die Studie (von 308 Mio. Tonnen CO2-Äquvalenten in 2018 auf 104 Mio. Tonnen CO2ä in 2030 und auf -8 Mio. Tonnen CO2ä in 2045). „Zentral ist dabei, dass sich die erneuerbaren Stromkapazitäten bereits bis 2030 mehr als verdoppeln müssen.“ Die installierte Leistung von Solarenergie zum Beispiel steigt von 45 Gigawatt (GW) auf 131 GW, Windenergie an Land von 52 GW auf 92 GW. Die Kohleerzeugung wird 2030 marktgetrieben kaum noch eine Rolle spielen, die Nutzung von Erdgas in der Stromerzeugung nimmt dagegen bis 2030 zu. Bereits dieser ‚Fuel Switch‘ trägt bis 2030 erheblich zur Emissionsminderung in der Energiewirtschaft bei.


Wasserstoff und Powerfuels werden bis 2030 nur eine geringe Rolle spielen. Der Aufbau entsprechender Infrastruktur und Märkte sei aber „unabdingbar“, denn die Rückverstromung von grünem Wasserstoff werde 2045 nach Windkraft und Photovoltaik zur drittwichtigsten Stromerzeugungsquelle. Bis 2035 spielt blauer Wasserstoff eine, wenn auch geringe Rolle, danach geht er gemäß Modellierung der dena-Leitstudie sukzessive aus dem Markt.


„Um Klimaneutralität in der Energieversorgung zu erreichen, braucht es den beschleunigten, marktbasierten Ausbau der erneuerbaren Energien durch eine Vereinheitlichung und Vereinfachung von Genehmigungsverfahren und die Bereitstellung von mehr Flächen“, sagt dena-Chef Andreas Kuhlmann. Parallel müssten bis 2030 leistungsfähige Märkte und Infrastrukturen für Powerfuels entstehen. Wichtig sei vor allem eine „aktive Begleitung des vorzeitigen Ausstiegs aus der Kohleverstromung“. Dabei gelte es eine Reihe von technologischen Anforderungen zu beachten. „Dazu gehört auch: Versorgungssicherheit in der Transformation erfordert ein neues Konzept mit dem Zubau von gesicherter Leistung und Anreizen für Flexibilitäten. Ohne einen entsprechenden Mechanismus für die Sicherung neuer Kapazitäten wird das nicht möglich sein.“ Auch auf den Ausbau der Stromnetze und die Wärmeversorgung kämen immense Herausforderungen hinzu, die eine Reihe von absichernden Mechanismen erforderlich machten.


Industrie: Durchschnittliche Absenkung der Emissionen um 8 Mio. Tonnen CO2 nötig


Die Industrie folgt an zweiter Stelle der höchsten Emissionen. Hier muss der Ausstoß allein bis 2030 um rund 36 Prozent sinken. Nach einer relativen Stagnation in den vergangenen zwei Jahrzehnten bedarf es zur Erreichung der Minderungsziele im laufenden Jahrzehnt einer durchschnittlichen Absenkung von ca. 8 Mio. Tonnen CO2 pro Jahr. Fast 70 Prozent des Minderungsbeitrags entfallen auf die energetischen Emissionen. Die stärksten Veränderungen werden bis 2030 auf die Branchen Stahl und Chemie zukommen.


„Um Klimaneutralität in der Industrie zu erreichen, braucht es eine transparente Treibhausgasbilanz in der gesamten Wertschöpfungskette, konsequente Kreislaufwirtschaft, finanzielle Lenkungswirkung über die CO2-Bepreisung, die Schaffung neuer Leitmärkte sowie den schnellen Hochlauf von emissionsarmen Technologien und Produktionsverfahren“, sagt Kuhlmann. Auch der Umbau der Abgaben und Umlagen – insbesondere das unmittelbare Absinken der EEG-Umlage auf null – seien wesentliche Grundlagen für die Aussicht auf Erfolg. Die Industrie bleibe auch langfristig der größte Abnehmer von Wasserstoff zur energetischen und stofflichen Nutzung. „Hierfür müssen die notwendigen Voraussetzungen zur Umstellung der Prozesstechnologien sowie zum Aufbau der Infrastrukturen getroffen werden.“


Verkehrssektor: Forcierung der E-Mobilität im Individualverkehr erforderlich


Der Verkehrssektor steht aktuell an dritter Stelle der Emissionen und hat die größte Reduktions­aufgabe aller untersuchten Verbrauchssektoren: Schon bis 2030 muss der Ausstoß um rund 48 Prozent sinken (von rund 164 auf 85 Mio. Tonnen CO2ä). Die stärkste Minderung muss im Individual­verkehr erfolgen, gefolgt vom Lkw-Verkehr. Dabei wird im Personenverkehr ein Hochlauf der Elektro­mobilität auf 9,1 Mio. vollelektrische Fahrzeuge (bzw. 14 Mio. Fahrzeuge inklusive Hybride) bis 2030 als notwendig erachtet. Wasserstoff werde kaum eine Rolle spielen.


„Um Klimaneutralität im Verkehrssektor zu erreichen, braucht es eine Forcierung der Elektromobilität im Individualverkehr, umfassenden Einsatz von Wasserstoff und Powerfuels im Schwerlastverkehr, den intensivierten Ausbau des ÖPNV und eine bessere Verknüpfung mit anderen Mobilitäts­angeboten sowie größere planerische Gestaltungsfreiheit für Kommunen“, sagt der dena-Chef. „Wichtig ist auch: Förderinstrumente, die im Wesentlichen auf die Zementierung der Individualmobilität ausgerichtet sind, stehen den erforderlichen transformatorischen Veränderungen im Verkehrsbereich eher im Weg.“


Gebäudesektor: Emissionen müssen bis 2030 um 44 Prozent sinken


Auch im Gebäudebereich müssen die CO2-Emissionen allein bis 2030 um 44 Prozent sinken (von rund 120 auf rund 67 Mio. Tonnen CO2ä). Der Großteil der Minderungen (46,5 Mio. Tonnen CO2ä) entfällt auf Maßnahmen an der Gebäudehülle und technische Anlagen. Der Einsatz von Wärmepumpen, der Ausbau der Anschlüsse an Wärmenetze muss massiv vorangetrieben werden. Im Szenario KN100 werden für das Jahr 2030 bereits 4,1 Mio. Gebäude mit Wärmepumpen versorgt, im Jahr 2045 sieht die Studie 9 Mio. Wärmepumpen. In 2030 werden 1,3 Mio. weitere Wohnungen (gegenüber 2019) durch Wärmenetze versorgt werden, 2045 sind es dann 2,7 Millionen.


Auch der Einsatz von klimaneutralen Brennstoffen müsse sich schon bis 2030 mehr als verdreifachen, von heute 9 auf dann 32 TWh. Bis 2045 erfolgt eine weitere Vervierfachung auf 120 TWh. Aufgrund der Vielschichtigkeit des Gebäudesektors mit seinen sehr spezifischen Herausforderungen sei aus heutiger Perspektive ein klimaneutraler Gebäudebestand ohne Wasserstoff und klimaneutrale Gase „nicht denkbar“. Eine besondere Herausforderung ist der dafür erforderliche Umbau der Infrastruktur.


„Um Klimaneutralität im Gebäudebestand zu erreichen, braucht es tiefgreifende Veränderungen mit hoher Geschwindigkeit. Gebäude mit dem schlechtesten Standard müssen zuerst angepackt, Sanierungsverfahren standardisiert, massiv intensiviert und die Wärmeversorgung schnell dekarbonisiert werden“, so Kuhlmann.


Zielführendes Energiemarktdesign und mehr Innovationen


„Es reicht aber nicht aus, Transformationspfade in einem Handlungsfeld oder einem Sektor zu beschreiten, es braucht die Verknüpfung von Maßnahmen in verschiedenen Handlungsfeldclustern“, so Kuhlmann weiter. Die dena-Leitstudie zeige die Notwendigkeit eines zielführenden Energiemarktdesigns, das die Transformation beschleunigt und möglichst effektiv Investitionen in klimaneutrale Technologien und Infrastrukturen auslöst. Dabei spielten ein CO2-Preis mit mehr Lenkungswirkung, die Angleichung staatlich induzierter Preisbestandteile und der Aufbau einer integrierten Infrastruktur­planung eine zentrale Rolle.


Grundlage des Gelingens werde sein, die unterschiedlichen Technologiepfade offen zu halten und keine frühzeitigen Vorfestlegungen zu treffen, die Optionen zur Erreichung der Klimaziele unnötigerweise einschränken. Alle Optionen, innovative Technologien zu identifizieren, zu unterstützen und zu skalieren müssten „massiv vorangetrieben werden“. Aber auch durch die Nachfrageseite sollten Innovationen zur Erreichung von Klimaneutralität gestärkt werden, beispielsweise durch eine auf klimaneutralen und innovativen Technologien beruhende Beschaffung der öffentlichen Hand. Die Steigerung von Forschung und Entwicklung seien ebenso notwendig, heißt es bei der dena weiter.


Deutschland muss zum Vorreiter des europäischen Green Deals werden


Große Bedeutung für die Erreichung der Klimaneutralität habe die europäische Ebene, da sie maßgebliche übergeordnete rechtliche Rahmenbedingungen setzt. „Die Studie verdeutlicht, dass die Energiewende stärker europäisch und international gedacht werden muss. Deutschland sollte bei der Umsetzung des ‚Fit for 55‘-Pakets zum Vorreiter werden die nationale Energiepolitik den europäischen ‚Green Deal‘ als Leitbild nehmen“, empfiehlt Kuhlmann. Entsprechende Initiativen wie der ‚Klimaclub‘ sollten weiter forciert, die europäische integrierte Infrastrukturentwicklung vorangetrieben und die internationalen Energiepartnerschaften insbesondere im Bereich Wasserstoff ausgeweitet werden. „Allein die radikale Veränderung der Importe von Energie und ein Blick auf die damit verbundenen geopolitischen Herausforderungen unserer Partnerländer macht deutlich, dass Klimapolitik eine zentrale Aufgabe für den oder die nächsten Außenminister/in sein muss.“


Klimaneutralität braucht breite gesellschaftliche Verankerung


Der gewaltige Transformationsprozess funktioniere nur mit den Bürgern zusammen und müsse sozial gerecht ausgestaltet sein. „Partizipieren und profitieren Bürgerinnen und Bürger an und von der Energiewende, steigt die Akzeptanz für die Transformation. Die Förderung von ‚Energy Communities‘ spielt dabei eine zentrale Rolle“, sagt dena-Chef Kuhlmann. Gesellschaftliche Verhaltens- und Konsummuster seien so leichter zu verändern. „Auch die Rolle der Bürgerinnen und Bürger als Prosumer sollte gestärkt werden.“ Maßnahmen wie die verbindliche Beteiligung der Kommunen an Einnahmen von Erneuerbare-Energien-Projekten oder die Abschaffung klimaschädlicher Subventionen könnten die Akzeptanz fördern und Ansätze wie eine Pro-Kopf-Energie-Geld die soziale Ausgestaltung der Energiewende verbessern.